Weggabelung des Schicksals
Stuttgart - Es gibt Momente im Leben, in denen der Mensch nicht umhinkommt, sich die Frage zu stellen, ob den Lauf der Dinge der Zufall oder das Schicksal bestimmt. Eine höhere Macht, die Menschen in Augenblicken leitet, in denen sie vor einer Weggabelung stehen, die entweder ins Glück oder ins Verderben führt. In der Nacht zum 29. Juli 1944 steht Rolf Armbruster vor einer solchen Weggabelung. Gegen zwei Uhr fliegt die Royal Air Force einen gezielten Angriff auf die Degerlocher Stellung, wo der 16-jährige Schuljunge als Luftwaffenhelfer dient. 18 Kameraden sterben. Rolf Armbruster überlebt - er hat in jener Bombennacht frei. Reiner Zufall? Oder doch Schicksal?
VON BENJAMIN SCHIELER
Seit 1996 gedenkt Armbruster jedes Jahr mit anderen zusammen der Opfer des Luftangriffs (hier bei der Gedenkveranstaltung zum 60. Jahrestag 2004). Foto: Achim Zweygarth
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Mit einem Angriff wurde nicht mehr gerechnet
28. Juli 1944. Der Himmel über Degerloch ist strahlend blau, doch unten in der Innenstadt sieht man die Sonne nicht. Nach tagelangen Bombardierungen hat sich der Rauch noch nicht verzogen. Stuttgart trauert um mehr als 800 Tote. Fast 2000 Menschen sind verwundet, 5000 Gebäude schwer oder total zerstört, 100.000 Bürger obdachlos. Schutt und Asche überall. Mittendrin steht der 16-jährige Rolf Armbruster. Die Neugierde hat ihn die Weinsteige hinuntergetrieben, zum Schlossplatz und in die Calwer Straße. Dabei ist er eigentlich unendlich müde, als Flakhelfer hat er die vergangenen Nächte kaum geschlafen. Sein Kommandeur hat ihm einen Tag freigegeben, weil er mit keinem weiteren Angriff der Royal Air Force rechnet. Dieser militärische Irrtum rettet Rolf Armbruster das Leben.
Im Sommer 1944 gibt es in der Tränke nichts als freies Feld. Etwa 250 Meter liegen zwischen den acht Geschützen, die von Rolf Armbruster und seinen Schulkameraden mitbedient werden. Es gibt Pläne, den Flakhelfer Armbruster von seinem Posten abzuziehen. Der Oberschüler soll an eine Messstation versetzt werden, die den Abstand zu den anvisierten britischen Bombern bestimmt, weil er bei Tests ein gutes räumliches Sehvermögen bewiesen hat. Doch es kommt nicht mehr dazu.
Das von Markus Wolf geschaffene Denkmal in Form einer geborstenen Säule wurde am 19. September 1996 eingeweiht. Es steht in der Tränkestraße 6 in 70597 Stuttgart-Degerloch auf Höhe der Mädler GmbH. Auf der Säule steht auf Lateinisch: "MORTVIS MEMORIAE - PACIS GRATIA" (deutsch sinngemäß: Den Toten zum Gedenken. Aus Dank für den Frieden). Auf der Bodenplatte steht: "Hier fielen bei der Abwehr eines Luftangriffs acht sechzehnjährige Schüler als Luftwaffenhelfer und zehn Flaksoldaten in der Nacht zum 29. Juli 1944."
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Am 28. Juli 1944 kehrt Rolf Armbruster gegen fünf Uhr nachmittags von seinem Innenstadtausflug in sein Degerlocher Elternhaus zurück. Gegen Mitternacht heulen die Sirenen. Die Familie Armbruster sucht im Keller Schutz. Plötzlich ist ein heftiger Schlag zu spüren, die Wände wackeln.
Rolf Armbruster eilt auf die Straße. Über der Tränke leuchtet ein greller Feuerschein. Der junge Flakhelfer rennt im Trainingsanzug zu seiner Stellung. Dort liegen seine Kameraden, dickes Blut läuft aus ihren Mündern. Der Luftdruck des Angriffs hat ihre Lungen zerfetzt. Selbst die Baracken in 200 Meter Entfernung sind zusammengestürzt. In den folgenden Stunden erscheinen verzweifelte Mütter, sie fragen nach ihren Söhnen. Niemand traut sich, die Wahrheit auszusprechen.
Eine Lüge brachte ihn heim
18 Tote gibt es an der Tränke zu beklagen. Zehn Soldaten und acht Luftwaffenhelfer, darunter Artur Stark und Werner Fuchs, Rolf Armbrusters Mitschüler an der Wilhelms-Oberschule. Die Jungen, die im Krieg so tun, als seien sie bereits Männer, sind in der Nacht ihres Todes 15 Jahre alt. "In stolzer Trauer" verkünden einige Eltern in Zeitungsanzeigen, ihr Sohn habe sein Leben fürs Vaterland gelassen. Werner Fuchs' Mutter gehört nicht zu den Stolzen, sie weiß, dass ihr Kind sinnlos gestorben ist. Auf der Beerdigung nimmt sie Rolf Armbrusters Hand und lässt sie minutenlang nicht mehr los. Er selbst fühlt nichts. Wie betäubt steht er auf dem Friedhof. "Wir hatten keine Beziehung mehr zu diesem Elend, zu den Schreckensmeldungen", sagt Armbruster heute. "Wir waren abgebrüht."
Im Dezember 1944 erhält Rolf Armbruster - längst kriegs- und führermüde - einen neuen Stellungsbefehl. Er soll im Allgäu helfen, die Alpenfestung zu verteidigen. Es ist ein aussichtsloses Unterfangen. Seine Kompanie muss mit einem einzigen Maschinengewehr auskommen, Benzin gibt es keines mehr. Als die amerikanische Armee über den Oberjochpass anrückt, ist der Krieg für Rolf Armbruster vorbei.
Er marschiert gen Heimat und gerät unterwegs in französische Gefangenschaft. Vier Tage lang wird er ohne Essen in einen Kohlekeller eingesperrt, Wasser gibt es nur in der Toilette. Als ein Offizier den Jungen befiehlt, sich zu melden, sofern sie unter 15 Jahre alt sind, tritt der 17-jährige Rolf Armbruster geistesgegenwärtig hervor. Man glaubt ihm, und er wird einem Pfarrer übergeben. Zwei seiner Kameraden bleiben stehen, sie sterben wenige Monate später beim Minenräumen in Frankreich.
"Wir hatten keine Beziehung mehr zu diesem Elend. Wir waren abgebrüht." Rolf Armbruster zum Tod seiner Mitschüler |
Später ist er beim Neubau der Technischen Hochschule in Stuttgart dabei, hält beim Richtfest eine Rede und bittet die Professoren, ihn als Architekturstudenten aufzunehmen. Er ist der Jüngste des Semesters. 1955 lernt Rolf Armbruster Erika kennen, die er drei Jahre später heiratet. Das Ehepaar hat zwei Kinder und vier Enkel. Sechs Menschen, die ihre Existenz der Tatsache verdanken, dass ihr Vater und Großvater die Bombennächte Ende Juli 1944 überlebt hat.
Kontakt zum Historiker Gerhard Raff
Rolf Armbruster baut sich nach dem Krieg erfolgreich eine Existenz als Freier Architekt auf. Er blickt nicht zurück - jahrzehntelang. Bis ihn Gerhard Raff auf seine Erfahrungen als junger Flakhelfer anspricht. Eine solche Geschichte, sagt der Historiker und Kolumnist der Stuttgarter Zeitung, dürfe nicht unerzählt bleiben.
Raff trifft bei Armbruster einen Nerv. Im Eigenverlag entsteht ein Buch, es trägt den Titel "Schüler bei der Luftverteidigung ihrer Stadt". Nur 600 Exemplare werden gedruckt, sie sind schnell vergriffen. Die Recherchen führen Rolf Armbruster zurück in seine Vergangenheit, rütteln ihn wach.
Er kontaktiert andere Kriegsveteranen, erhält von der Royal Air Force und dem Pentagon Bildmaterial, aus Kanada schreibt ihm ein immigrierter Deutscher. Man tauscht sich aus über das gemeinsam erlebte Leid.
Einweihung mit Bildhauer Markus Wolf (links) und OB Manfred Rommel. Bild: www.plieningen-online.de
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1996, mehr als ein halbes Jahrhundert nach Kriegsende, wird auf Armbrusters und Raffs Initiative hin das Mahnmal enthüllt, das an die Todesnacht im Juli 1944 erinnert.
Oberbürgermeister Manfred Rommel, selbst ehemaliger Luftwaffenhelfer, spricht. Es ist der Beginn eines Rituals ehemaliger Flakhelfer und -soldaten. Sie kommen nicht nur aus dem Umkreis, sondern aus dem ganzen Land nach Degerloch.
Von Jahr zu Jahr aber verringert sich die Zahl der Zeitzeugen. Sieben ehemalige Flakhelfer sind in den vergangenen zwölf Monaten gestorben, elf haben ihr Kommen zu der jährlichen Gedenkveranstaltung am Donnerstag, den 29. Juli aus gesundheitlichen Gründen abgesagt. "In fünf Jahren", vermutet Rolf Armbruster, "ist alles vorbei."
Quelle: Stuttgarter Zeitung 28.7.2010
Rolf Armbruster (Hrsg.): Schüler bei der Luftverteidigung Ihrer Stadt. Die schwere Flak-Batterie in Stuttgart-Degerloch, Stuttgart 1998, Eigenverlag, 128nbsp;Seiten | |
Hermann Queck (Hrsg): Noch einmal davon gekommen. Letztes Aufgebot Luftwaffenhelfer und Jungsoldaten im Strudel des Untergangs 1944/45 im Südwesten und Osten, Gerlingen 2010, ISBN 978-3-940606-49-5, 450 Seiten |
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